Offener Brief der Liga Hessen an Ministerpraesident Bouffier - Presse - awo-nordhessen.de

Offener Brief der Liga Hessen an Ministerpraesident Bouffier

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier,

in Sorge um die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner sowie Pflege- und Betreuungskräft in unseren Einrichtungen und mit Unverständnis über die Kurzfristigkeit Ihrer Entscheidung, haben wir Ihre vorgestrige Pressekonferenz zur Öffnung der Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe (nachfolgend: Einrichtungen zur Kenntnis genommen. Bewohnerinnen und Bewohner können bestmöglich geschützt werden, wenn vermeidbar Kontakte tatsächlich vermieden werden. Wer davon Abstand nimmt und wie in Hessen die Lockerung des Besuchsverbotes schon für kommenden Monta ankündigt, trifft auch die klare Entscheidung, vermeidbare Kontakte künftig trotzdem
zu erlauben und die damit einhergehende steigende Infektionsgefahr zu akzeptieren. Mit der sehr kurzfristig öffentlich angekündigten Öffnung der Einrichtungen für Besuchergeht die Landesregierung genau diesen Weg.

Wir möchten hiermit klarstellen, dass unsere Einrichtungen selbstverständlich über ein Schutzkonzept verfügen. Dieses bezieht sich auf die jetzigen Anforderungen und schafft relative Sicherheit vor Infektionen. Hieraus den Schluss zu ziehen, die Einrichtungen verfügten über ein ähnlich wirksames Schutzkonzept, wenn die Voraussetzungen
deutlich verändert werden, ist trügerisch.

Wir befürchten konkret, dass Sie vor dem Treffen dieser Aussage nicht hinreichend informiert wurden. Wenn es im Einzelfall ein solches Konzept geben mag, fehlt es an der praktischen Umsetzung. Es sind erhebliche räumliche Anpassungen erforderlich, Besucherzimmer müssen hergerichtet werden und es bedarf einer Personalplanung zur Begleitung der Besucher*innen in unseren Einrichtungen. Bitte bedenken Sie dabei, dass rund 450 Pflegekräfte in hessischen Pflegeheimen in Quarantäne sind. Zudem verlagert die Begleitung von Besuchern die Arbeit unserer Mitarbeiter*innen.
Völlig unverständlich ist uns, warum diese Öffnung praktisch ohne Vorbereitungszeit vollzogen wird. Dieser Schritt ist gegen die wiederholte Einschätzung der Einrichtungsvertretungen dass es für die Umsetzung Zeit braucht, getroffen worden und trifft unsere Einrichtungen in einer Zeit, die extrem belastend und herausfordernd ist. Es ist zwingend erforderlich, unseren Einrichtungen mehr Zeit zur Vorbereitung zu
geben, damit das Schutzkonzept unsere Bewohnerinnen und Bewohner auch schützt und gleichzeitig Kontakte zu den nahen Angehörigen ermöglicht. Schulen und auch Kirchen wird eine 14tägige Vorbereitungszeit eingeräumt – Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, welche für die Versorgung der gefährdetsten
Bevölkerungsgruppe verantwortlich sind, wird eine solche Vorbereitungszeit nicht ermöglicht.
Wenn jetzt der Odenwaldkreis eine Allgemeinverfügung ankündigt, die im Kern die Verordnung des Landes aus Gründen des Gesundheitsschutzes für nichtig, da unverantwortlich erklärt, bringt dies Einrichtungen in unzumutbare Situationen. Wie sollen sich unsere Einrichtungen gegenüber Angehörigen bei diesem widersprüchliche Behördenvorgehen verhalten? Dieser Landkreis ist neben einigen anderen leider in besonderem Maße betroffen. Wir dürfen nicht zulassen, dass dies flächendeckend passiert.

Die in der Verordnung angemerkte Handlungsempfehlung steht uns seit dem 29.04.2020 in der finalen Fassung zur Verfügung. Leider müssen wir feststellen, dass wesentliche Forderungen unsererseits nicht aufgegriffen wurden. Wir brauchen eine regelmäßige Testung unserer Pflege- und Betreuungskräfte und Bewohnerinnen und Bewohner. Andere Bundesländer machen uns das vor – zum Beispiel in NRW wurde
per Verordnung geregelt, dass vor Heimaufnahme zwei negative Tests auf COVID-19 erfolgen müssen. Im Saarland werden Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen flächendecken getestet. Wohlwissend, dass auch dies keine absolute Sicherheit bedeutet, ist es ein Schritt in die richtige Richtung eines regelmäßigen Screenings. Einzelne Landkreise versuchen diese regelmäßige Testung zu ermöglichen – ohne Unterstützun der Landesregierung wird dies aber nicht ausreichen. Darüber hinaus wird diese abrupte Öffnung der Einrichtungen auch zu einem hohe Verbrauch an persönlicher Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel führen. Im Besuchskonzep der Landesregierung heißt es: „Die Landesregierung versorgt im Rahmen ihrer Möglichkeiten und im Zuge der etablierten Lieferketten die Einrichtung mit OP Masken“. Diese etablierten Lieferketten reichen bislang nicht ansatzweise aus, um zusätzlich zu der vorrangigen Versorgung von Bewohnern und Pflege- und Betreuungskräfte auch noch monatlich ca. 400 Besucher (bezogen auf ein Haus mit 100 Plätzen) mit medizinischem Mund-Nasen-Schutz zu versorgen.

Dieser Zeitpunkt des Inkrafttretens zum 4. Mai 2020 schafft für alle Beteiligten leider nur Negatives. Für Angehörige wird die Möglichkeit von Besuchen eingeräumt, welche für die Einrichtungen aufgrund der fehlenden Zeit und damit der fehlenden Umsetzungsmöglichkeit sowohl organisatorisch, personell und technisch nicht umsetzbar sind. Damit kollidieren Forderungen der Angehörigen mit den Schutzerfordernissen
der Einrichtungen. Dies schafft in der angespannten Coronasituation unnötiges Konfliktpotenzial, das man mit einem späteren Vollzug von Lockerungen vermieden hätte.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier,
es bedarf dringend einer Korrektur des Zeitplans zur Öffnung unserer Einrichtungen, wir brauchen deutlich mehr Testmöglichkeiten für unsere Pflege- und Betreuungskräfte und Bewohner*innen, ein verbindliches Konzept wie es unsere Fachleute und Praktiker vor Ort entwickelt haben, sowie ausreichend Schutzmaterial für unsere Einrichtungen Bitte nutzen Sie die aktuellen Äußerungen von Bundesminister Spahn zu den gestiegenen und offensichtlich ungenutzten Testkapazitäten dazu, sich an die Spitze der Bundesländer zu setzen beim Schutz von Bewohner*innen sowie den Pflege- und Betreuungskräften. Zusammen mit der konkreten Aussage, dass ab Montag eine verantwortungsvolle Öffnung innerhalb der nächsten 14 Tage und in dem Maße umgesetzt wird, wie es die Pflege- und Eingliederungshilfeeinrichtungsleitungen im jeweiligen Heim individuell stemmen können, wäre viel geholfen. Dann können wir auch im Verlauf der nächsten beiden Wochen Zug um Zug gemeinsam dafür sorgen, dass die Kontakte zwischen den Bewohner*innen und nahen Angehörige wieder in sicherer Umgebung stattfinden können.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Yasmin Alinaghi
Ralf Geisel
bpa-Landesvorsitzender
Vorstandsvorsitzende der Liga der Freien Wohlfahrtspflege e. V.



 
 
 

Pressekontakt

Adresse
Wilhelmshöher Allee 32 A
34117 Kassel
Telefon
0561 / 5077-103 oder mobil 016093954357
Fax
0561 / 5077-199
Öffentlichkeitsarbeit und Marketing